Die Coronapandemie verursacht gravierende Umwälzungen in der Gesellschaft: Wirtschaftszweige verhungern, während andere aufblühen. Zum Nachteil vieler Ladengeschäfte in unserer kleinräumigen Infrastruktur expandieren global aufgestellte Internetshops. Diese verursachen einen regen Lieferverkehr der verschiedenen Paketdienste, die sich weitgehend durch recht unsoziale Arbeitsbedingungen auszeichnen. Sie beschäftigen nämlich kein Personal, sondern haben Verträge mit Subunternehmern. Durch diesen Trick gibt es keine tariflichen Regelungen für die Fahrer. Überstunden? Privatsache...

Wahlkampf: trotz allem mal herzlich gelacht...


Nun ist der Wahlsonntag am 14. März verstrichen, und wir wühlen uns allmählich aus dem Berg an Versprechen wieder ans Tageslicht, mit denen uns die Parteien zugeschüttet haben. Wahlprogramme klingen immer so, als werde bald alles gut werden. Die CDU wird christlich, die SPD sozial, die Grünen gönnen uns keine Einfamilienhäuschen mit Garten, die Linken wollten uns unser geistiges Eigentum nehmen (Abschaffung von Copyright und Patentwesen). Dann gibt es da noch die Blauen, die aus ihrer Nabelschau nicht herauskommen, und die Pünktchenpartei die zu allem ihren Senf dazugeben muß aber dann doch nicht mitmacht.

Seit 40 Jahren grast jeder auf der Wiese des anderen um Wähler abzugreifen, jedenfalls vor der Wahl. Nach der Wahl zeigt sich dann, wer zu seinem Wort stehen wird.

Bislang haben uns die regierenden Parteien beschert:

  • Katastrophale Bedingungen im Gesundheits- und Pflegesektor
  • industrialisierte Landwirtschaft
  • Prekariat durch Leiharbeit und befristete Verträge. Der private Dienstleistungssektor führte zur Erosion der Sozialbürgerschaft. Über 1 Milliarde Überstunden werden pro Jahr in Deutschland geleistet, davon die Hälfte unbezahlt.  

Kürzlich, als ich den Film „Treffer*“ aus dem Jahr 1984 wieder gesehen habe, fiel mir eines sehr deutlich auf:

der Film zeigt eine ganz andere Gesellschaft als unsere. 37 Jahre vor unserer Zeit gab es ein proletarisches Bewußtsein und Klassenstolz, wo es heute nur noch abgearbeitete Mehrfach-Jobber in Selbstausbeutung und unvermittelbare Langzeitarbeitslose gibt. Unsere Arbeitswelt hat sich völlig verändert. Das Proletariat wurde zum Prekariat, der klassische Arbeiter wurde zur Ich-AG herabgewürdigt, Selbstausbeutung ersetzt Selbstwertgefühl.
Dagegen wuchs die Klasse des Managements stark an, wie in einem Schneeballsystem, in dem letztlich gar kein Produkt eine Rolle spielt, sondern nur daß einer den anderen verwaltet.

Daneben sind noch jede Menge Wutbürger und Wortklauber*innen übrig, die aber auch nicht wirklich sinnvolle Produkte anzubieten haben. Ein weinerliches „Früher war alles besser“ hilft nicht weiter. Der Trierer Professor Lutz Raphael prägte dazu einen schönen Satz: „Übrig bleiben im postindustriellen Zeitalter industrieromantische Erinnerungsorte...“ - was aus den Menschen von vor knapp 40 Jahren wurde, wie sie ihr Leben bis heute weitergeführt haben, wie sie sich verändert haben, darüber denkt man viel zu selten nach.

Warum fordern nur kleine Parteien grundlegende Änderungen? Warum setzen sich nicht auch Mehrheitsparteien, die das Wörtchen „christlich“ und/oder „sozial“ im Namen führen, energisch für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein, für eine Verbindliche Sozialversicherung für ALLE, die ab einem bestimmten Einkommen sprunghaft ansteigt, anstelle von privaten Versicherungen für Begüterte?

Unsere politische Landschaft mußte sich auf soviele Änderungen einstellen, seit die Pandemie das Legen regiert. Sie zeigt sich teils äußerst leistungsfähig, teils aber auch träge und hilflos. Ich hoffe, daß unter den Menschen, die uns regieren, auch ein paar Leistungsfähige sind, die den Schwung aus der Pandemiebewältigung nutzen, um endlich auch unsere Sozialgesellschaft wieder zu einer zu machen, die diese Bezeichnung verdient.

Marieta Hiller, März 2021

* Mit Dietmar Bär - „die letzte Viererreihe ist immer extrem schwierig“

Quellen:

GEO Wissen Nr. 66
Lutz Raphael Jenseits von Kohle und Stahl, Suhrkamp 2019